Carsten Sann

Zu guter Letzt … (April 2022)

Nach dem letzten Newsletter vom März habe ich von einer Leserin meiner Kolumne eine Rückmeldung in Form einer Frage bekommen: Warum nur habe ich mit keiner Silbe die aktuelle weltpolitische Situation, also den Krieg in der Ukraine erwähnt? Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass ich mich bei der Auswahl meiner Themen von dem leiten lassen, was mir persönlich gerade wichtig ist. Schließlich ist meine Kolumne eine rein subjektive Sache, in der ich meine Gedanken zu Papier bringe und nur hoffen kann, dass andere sie inspirierend oder nützlich finden. Andererseits ist es auch schlicht nicht meine Aufgabe.

„Es ist schon alles gesagt worden …“

Bevor ich näher auf das Thema „Trennung der Aufgaben“ eingehe, noch ein Gedanke. Ein Bekannter hat einmal in anderem Kontext den folgenden, mir bis dahin noch unbekannten Spruch gebracht: „Es ist schon alles gesagt worden, nur noch nicht von jedem.“ Besonders bei den beiden dominantesten Themen der letzten zwei Jahre – Corona und Ukraine – trifft das in besonderer Weise zu. Solange ich also nichts Neues beizutragen habe, schweige ich besser, denn es nutzt niemandem, bereits Gesagtes zum 731. Mal zu wiederholen. Aus dem gleichen Grund teile ich auch keine Beiträge zu den allgegenwärtigen Themen mehr über soziale Netzwerke, denn wer (aus welcher Quelle auch immer) informiert sein will, hat den Beitrag wahrscheinlich schon mehrere Male gesehen, und wer nicht informiert sein will, hat das Recht dazu.

Trennung der Aufgaben

Aber zurück zum Thema Aufgabentrennung. Vor einiger Zeit habe ich das Buch „Du musst nicht von allen gemocht werden“ von Ichiro Kishimi (ISBN 978-3499634055) gelesen. In diesem fiktiven Dialog zwischen einem zutiefst unglücklichen jungen Mann und einem alten Philosophen werden die Grundlagen der Psychologie Alfred Adlers dargestellt. Adler ist, neben Sigmund Freud und Viktor Frankl, einer der drei Vertreter der „Wiener Schule“ und heute leider außerhalb psychologischer Fachkreise weitgehend unbekannt. Seine Arbeit ist es jedoch für jedermann Wert, sich mit ihr zu beschäftigen, insbesondere für Eltern. Dieses Buch ist dabei ein fantastischer Einstieg, denn es ist leicht verständlich und trotzdem sehr gehaltvoll.

Die Trennung der Aufgaben ist eines der zentralen Konzepte von Adler berührt unseren Alltag mehr, als wir uns vielleicht gerade vorstellen können. Verkürzt gesagt geht es darum, sich möglichst immer bewusst zu sein, wessen „Aufgabe“ etwas bestimmtes ist. Normalerweise ist es die Aufgabe desjenigen, der „am Ende das Resultat [erhält], das sich aus der Entscheidung ergibt.“ Eine Einmischung in die Aufgaben anderer, führt immer zu zwischenmenschlichen Problemen. Der Philosoph formuliert es im Buch so:

Im Allgemeinen werden alle Beziehungsprobleme dadurch verursacht, dass man sich in fremde Aufgaben einmischt oder zulässt, dass sich andere in die eigenen einmischen. Eine Aufgabentrennung durchzuführen genügt, um die zwischenmenschlichen Beziehungen dramatisch zu verändern.

Wessen Aufgabe ist es zu lernen?

Als Beispiel besprechen die beiden Protagonisten im Buch das Thema Schule: Wessen Aufgabe ist es zu lernen? Offensichtlich die des Kindes. Die Eltern können ihm weder das Lernen abnehmen, noch sollten sie sich im Sinne Adlers „einmischen“, indem die versuchen es dazu zu zwingen. Vielmehr geht es für Eltern darum a) sich der Aufgabentrennung bewusst zu sein und b) ihre eigene Aufgabe zu erledigen, indem sie Unterstützung anbieten. Ein immer wieder gebrauchter Spruch im Buch dazu ist: Man kann das Pferd zur Tränke führen, saufen muss es alleine.

Der junge Mann ist ob der Tragweite dieses Konzepts entsetzt und erwidert, dass die Eltern ja die Verantwortung für das Kind haben und es deshalb sehr wohl zum Lernen anhalten müssen. Hier entgegnet der Philosoph:

Es stimmt, dass man Eltern heutzutage oft sagen hört: ‚Das ist zu deinem eigenen Besten.‘ Doch sie handeln ganz klar, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, die etwa darin bestehen mögen, in den Augen der Gesellschaft gut dazustehen, sich wichtig zu machen, Kontrolle auszuüben zum Beispiel. Mit anderen Worten: Es geht nicht um das Wohl des Kindes sondern um das der Eltern. Und weil das Kind diesen Betrug riecht, rebelliert es.

Zugegeben, im Vergleich zu dem gesellschaftlichen Konsens, der unsere Alltag prägt, ist das harter Tobak. Lässt man sich jedoch auf das Gedankenexperiment ein und macht sich immer wieder bewusst, wessen Aufgabe etwas ist, wird recht schnell klar, dass in diesem Konzept viel Wahrheit steckt und dass es tatsächlich, wie der Philosoph sagt, dazu geeignet ist, viele zwischenmenschliche Probleme geradezu auszulöschen.

Aufgabentrennung im Alltag

Einige Beispiele, die natürlich immer davon ausgehen, dass alle Beteiligten nach bestem Wissen und Gewissen handeln:

  • Wessen Aufgabe ist es, die Hausaufgaben zu erledigen?
  • Wer ist für den Erfolg einer Coachingsitzung verantwortlich?
    (Für die Kinesiologen: Wer ist dafür verantwortlich, dass der Klient testbar ist?)
  • Wessen Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass ich gesund bleibe?
  • Wessen Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass ich glücklich bin?

Und wenn ich mich ein wenig aus dem Fenster lehne:

  • Wessen Aufgabe ist es, den Krieg in der Ukraine zu beenden?
  • Wer ist dafür verantwortlich, sich vor Infektionen zu schützen?
  • Und wer ist verantwortlich, wenn sich jemand über das empört, was ich hier schreibe?

Auf die Nase fallen

Spannend, nicht? Bleibt noch anzumerken, dass Eltern natürlich zuerst einmal für das körperliche und seelische Wohl des Kindes verantwortlich sind, solange es diese Verantwortung noch nicht selbst tragen kann. Oft ist es jedoch so, dass Kinder viel früher und viel umfassender Verantwortung übernehmen können, als wir es als Eltern glauben. Ist es wirklich notwendig zu versuchen, Kinder vor ALLEM zu beschützen? Oder ist es nicht sinnvoller, sie in geschütztem Rahmen auch mal auf die Nase fallen zu lassen?

In Bezug auf Beziehungen zwischen Erwachsenen übe ich mich inzwischen darin, die Trennung der Aufgaben konsequent einzuhalten. Der unmittelbare Erfolg, den ich beobachte, ist, dass es mir nun sehr viel leichter fällt, Entscheidungen bei denjenigen zu lassen, die für sie verantwortlich sind, wo ich früher geglaubt habe, selbst auch Verantwortung zu tragen. Und alleine das macht zwischenmenschliche Beziehungen schon deutlich leichter.

In dem Buch sind noch viele weitere interessante Konzepte dargestellt und ich kann es jedem meiner Leser nur herzlich empfehlen. Andrea Schlauersbach und ich haben übrigens auch brandaktuell eine Podcastfolge zur Trennung der Aufgaben in der Psychologie Adlers aufgenommen. Hören Sie doch mal rein! In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch viele sonnige Apriltage.

Liebe Grüße aus Aschaffenburg
Carsten Sann
Der Essenzenladen

Carsten Sann

Carsten Sann ist Gründer und zusammen mit seiner Frau Inhaber des Essenzenladens. Er hat sich in seinem Leben schon mit einer Reihe unterschiedlichster Professionen beschäftigt und war unter anderem Tanzlehrer, IT Spezialist und Kinesiologe. Er beschäftigt sich seit 20 Jahren intensiv mit Blütenessenzen aus aller Welt. Er ist deutscher Distributor und Lehrer für viele der bekanntesten Essenzenhersteller und spricht in seinem Essenzenpodcast über sein Lieblingsthema: Die Anwendung von Blütenessenzen

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

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    Mechthild von Glasow

    Das hat mich voll erreicht und ich bin sehr dankbar für diese Gedanken! Ich bin Lehrerin und kenne die Sorge um die Hausaufgaben sehr gut. Auch habe ich ein sehr prägnantes Erlebnis kurz vor den Ferien gehabt, als einer meiner Schüler, der sehr empfindlich ist und aus der Haltung heraus gerne austeilt, einem Mitschüler eine Ohrfeige gab, als dieser seine Hand auf der Bank des oft auffälligen Schülers legte. Die Mutter des Geohrfeigten, die eine Kollegin von mir ist, schrie mich daraufhin im Lehrerzimmer an. Und am nächsten Tag kam mir auch noch die Oma entgegen, die ihre Enkel abholen wollte und mich voller Sorge ansprach, dass ihr Enkel diesem Störenfried hilflos ausgeliefert ist… Beide Frauen sagten mir, sie könnten deshalb schlecht schlafen. Und, ist das nun meine Aufgabe, dass sie wieder besser schlafen? – Und mit der Ukraine sehe ich es so, dass wir, jeder von uns, direkt in unserem Dunstkreis versuchen sollten, ein friedliches, dankbares, Ressourcen und glückliche/sorgenvolle Momente teilendes Leben zu führen. Jede(r) seinen Aufgaben gemäß…. Herzliche Ostergrüße, Mechthild von Glasow

  2. Carsten Sann
    Carsten Sann

    Liebe Frau von Glasow, vielen Dank für die schöne Rückmeldung :-) Wenn Sie Lehrerin sind, sollten Sie sich unbedingt auch das zweite Buch von Ichiro Kishimi zur Psychologie Adlers ansehen. Es heißt „Du bist genug“ und beschäftigt sich ausführlich mit den pädagogischen Ideen Adlers. LG Carsten Sann

  3. Avatar-Foto
    Mechthild von Glasow

    Danke für den weiteren guten Tipp! Ich habe flugs mir das Buch bestellt und hoffe, noch in dieser Ferienwoche mit dem Lesen voran zu kommen. Herzliche Grüße, M.v.Glasow

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