Thema Achtsamkeit – die Zweite! Nachdem ich letzten Monat mit meinem Versuch grandios gescheitert bin, meine Gedanken zu diesem Thema in meiner Kolumne zu Papier zu bringen, hier nun mein nächster Anlauf 😉
„Achtsamkeit“ ist also wie gesagt ein gerne und oft benutztes Wort. Und diese Qualität ist zweifellos auch gut und wichtig. Wenn ich mich so umsehe, bemerke jedoch immer wieder, dass Menschen von Achtsamkeit im modern-spirituellen Sinn sprechen und sich das Konzept wie ein Schild vor die Brust halten – manchmal, um allen zu zeigen, wie weit entwickelt sie glauben zu sein, manchmal auch als passiv-aggressiven Schutzschild.
Achtsamkeit braucht ein Fundament
Noch einmal: Achtsamkeit ist super. Damit sie authentisch wird, braucht sie jedoch ein solides Fundament. Für mich muss Achtsamkeit deshalb bereits im brutal Profanen anfangen – jeden Tag, in jeder Minute. Große Worte, nicht wahr? Aber ich will gerne etwas ausführlicher erläutern, was ich damit meine. Und damit kommen wir wieder auf die Stichworte, die ich Ihnen gemeinerweise im letzten Monat vor die Füße geworfen habe.
Was wäre wohl noch „brutaler profan“ als eine Mülltonne? Die Inspiration, über das Thema Achtsamkeit im Alltag zu schreiben kam mir, als ich die Mülltonne zum Zwecke der Entleerung abends vor das Tor gebracht habe. Wir haben eine vergleichsweise lange Einfahrt und das Tor ist auf halbem Weg bis zur Straße. Die Müllmänner müssen also die Tonnen noch ein Stück bis zum Müllwagen ziehen. Für mich ist es fast so etwas wie ein Reflex, die Mülltonne so hinzustellen, dass der nette Mensch, der meinen Dreck wegkarrt, sie direkt greifen und bewegen kann, und sie nicht zuerst noch herumdrehen muss. Das bedeutet natürlich, dass ich derjenige bin, der sie um 180° drehen muss. Für mich ist es jedoch selbstverständlich, das zu tun, denn ich mache das an diesem Tag genau einmal, während der Entsorgungsbeauftragte das vielleicht Hunderte Mal tun müsste. Mit den drei Sekunden, die ich investiere, mache ich ihm also die Arbeit ein klitzeklein wenig leichter. Das ist für mich ein Beispiel für Achtsamkeit im Alltag.
Rolltreppenordnung
Solche kleinen Dinge und Gesten sind hier in Deutschland viel weniger verbreitet als in anderen Ländern. Mein Lieblingsbeispiel hier ist – zweites Stichwort – Japan. Bei meinen Besuchen durfte ich erleben, wie fantastisch es sich anfühlt, wenn jeder sich jederzeit der Tatsache bewusst ist, dass es auch noch andere Menschen auf der Welt gibt. Die Konsequenz ist, dass dort jeder selbstverständlich ein klein wenig Rücksicht nimmt und achtsam ist. Die schnöde Benutzung von Rolltreppen(!) ist hier nur ein Beispiel von vielen. Jedem Japaner scheint klar zu sein, dass man auf der einen Seite steht, während die andere Seite dafür gedacht ist, zu gehen. So steht niemand denjenigen im Weg, die vielleicht etwas schneller einen Stock höher oder tiefer möchten. Versuchen Sie das mal in Deutschland …
Ich weiß – das ist ziemlich banal. Und dennoch macht es das Leben leichter und hat sich für mich zumindest kurzzeitig wie ein kleines Stück vom Paradies angefühlt. Ja, ja, ich übertreibe … oder vielleicht doch nicht?
Japanische Bahn-Choreographie
Auch die Benutzung von Zügen in Japan ist sehenswert. Am Bahnsteig gibt es vor jeder Tür – die Züge halten tatsächlich immer exakt an derselben Stelle – drei farblich markierte Zonen, ich nenne sie mal „Aussteigen“, „Einsteigen“ und „nächster Zug“. Wenn also die Bahn ankommt und hält, ist die Aussteigezone frei(!), die Menschen, die einsteigen möchten, warten in der entsprechenden Zone und diejenigen, die erst den nächsten Zug nehmen möchten, stehen in deren Zone. Dann beginnt das, was ich liebevoll die „Japanische Bahn-Choreographie“ nennen möchte: Die Türen öffnen sich und die „Aussteiger“ verlassen den Zug. Sobald der letzte raus ist, beginnen die „Einsteiger“ in den Waggon zu strömen. Pünktlich schließen sich die Türen und der Zug fährt ab. Währenddessen rutschen die Menschen in der „Nächster-Zug-Zone“ kollektiv ein Feld weiter und warten dort auf ihre Bahn. Die nunmehr leere Zone beginnt sich allmählich zu füllen und wenn der nächste Zug kommt, beginnt das Schauspiel von Neuem. Als ich das das erste Mal erleben durfte, war ich wie vom Donner gerührt: „Das geht?!“
Ja, das geht. Also zumindest in Japan. Und es ist wieder ein Beispiel für sehr grundlegende und vor allem pragmatische Achtsamkeit im Alltag. Die japanische Kultur hat sicher ihre ganz eigenen Probleme, aber was dieses Thema angeht, können sich die meisten anderen Länder hier drei bis fünf Scheiben abschneiden.
Achtlosigkeit im Alltag
Zurück aus dem Paradies ins herbstliche Deutschland. Das Bewusstsein für die Existenz anderer Menschen mit eigenen Absichten und Bedürfnissen ist hier lange nicht so verankert wie in Japan. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe inzwischen fast so etwas wie eine Allergie gegen die allgegenwärtige Achtlosigkeit im Alltag entwickelt: Menschen, die mitten im Weg stehen und sich unterhalten oder einem mit der Nase im Handy vor die Füße laufen. Schranktüren, die ohne Grund offen stehen gelassen werden, Senftuben, die achtlos ausgedrückt werden, so dass am Ende der Rest unbenutzbar ist und im Mülleimer landet, Klopapier, das leer gemacht aber nicht aufgefüllt wurde …
Ja, ich weiß: winzige Kleinigkeiten. Und trotzdem wäre das Leben aller ein klein wenig leichter, wenn man darauf achten würde. Und um auch das gesagt zu haben: Mir passieren solche Sachen selbstverständlich auch. Meine persönliche Konsequenz ist dann, die Nachlässigkeit nach Möglichkeit zu korrigieren und mir vorzunehmen, das nächste Mal aufmerksamer zu sein. Und das klappt meistens recht gut. Was mich persönlich jedoch stört ist, wenn so etwas immer wieder vorkommt und es außer Achtlosigkeit oder vielleicht Faulheit wirklich gar keinen Grund gibt, die Schranktür NICHT zuzumachen. Aber wahrscheinlich bin ich auch da sensibler als so viele …
Achtsamkeits-Challenge
Wenn Sie meine Kolumne bis hier gelesen haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie mir zustimmen und selbst ein Fan von Achtsamkeit im Alltag sind, relativ groß. Wie wäre es aber, wenn Sie trotzdem ein kleines Spiel machen – eine „Challenge“, wie es auf Internet-neuhochdeutsch heißt: Wählen Sie sich doch einmal einen Zeitraum aus, vielleicht eine Woche, in dem Sie sich zum Ziel setzen, bewusst alle kleinen Dinge zu tun, die Sie weder nennenswert Zeit noch Ressourcen kosten, die aber anderen Menschen das Leben ein wenig leichter machen. Die oben genannten Beispiele können gerne als Inspiration dienen, und es gibt noch unendlich viele weitere Gelegenheiten im Alltag. Ich vermute, Sie werden ebenso wie ich feststellen, dass es sich vor allem für einen selbst wirklich gut anfühlt, wenn man bewusst jemand anderem etwas Gutes getan hat – egal wie klein oder gering das auch sein mag und egal ob die andere Person es überhaupt bemerkt oder nicht.
Bevor ich zum Schluss komme, noch ein Caveat: Es geht nicht darum, die eigenen Bedürfnisse hinter die der anderen zu stellen. Mein Plädoyer in dieser Kolumne bezieht sich einzig und alleine auf die Kleinigkeiten, die uns (wörtlich und im übertragenen Sinne) nichts kosten aber anderen nützen. Die sollten wir tun. Es lohnt sich, denn dann hat alles was an Achtsamkeit noch hinzukommt ein solides Fundament.
Liebe Grüße aus Aschaffenburg
Carsten Sann
Der Essenzenladen
P.S. Zu dem Thema gibt es inzwischen auch eine Folge im Podcast „Unsere kleine, große Welt“: Was Du willst das man Dir tu …
So treffend! Herzlichen Dank für diesen Impuls, Herr Sann.
Ihre Kolumnen finde ich meist sehr lesenswert. Heute möchte ich dafür auch einmal dnake sagen.
Herzliche Grüße!
S: Ach ja, die Challenge nehme ich an. :-)
Vielen Dank :-) Dann wünsche ich viel Freude und Erfolg bei der Challenge!