Schon seit einigen Jahren beobachte ich (und wahrscheinlich auch sie) eine immer größer werdende Tendenz zu politischer Korrektheit, der sich inzwischen für mich fast ein wenig zwanghaft anfühlt. Bitte verstehen sie mich nicht falsch: Ich bin ein großer Verfechter einer achtsamen und respektvollen Kommunikation. Der Glaube, dass alles politisch Korrektheit sein müsse hat jedoch inzwischen solch eine Eigendynamik entwickelt, dass ich oft aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskomme – man denke nur an die Debatte um die Werke von Astrid Lindgren. Im Jahr 2009 wurden die deutschen Übersetzungen der Bücher umgeschrieben, im Kontext harmlose Worte wie „Zigeuner“ und „Neger“ wurden entfernt und durch „zeitgemäße“, vermeintlich politisch korrekte ersetzt.
Die Verfechter solcher Aktionen gehen davon aus, dass sich die Einstellung der Menschen ändern lässt, indem man versucht, von oben verordnet den Sprachgebrauch zu ändern. Dabei wird meiner Meinung nach übersehen, dass Worte per se erst einmal vollkommen neutral sind. Erst die Art und Weise, der Kontext und wie es vom Empfänger verstanden wird sorgen dafür, dass Worte loben, schmeicheln, manipulieren oder verletzen. Wenn ich meinem besten Freund im Spaß sage: „Du bist vielleicht ein Depp!“ ist das etwas komplett Anderes, als wenn ich es meinem Kind als Reaktion auf eine schlechte Note an den Kopf werfe. Auf der anderen Seite kann ich jederzeit auch mit politisch korrekten Worten diskriminierende und verletzende Dinge sagen.
Ein weiteres Beispiel für zwanghafte politische Korrektheit ist das immer nerviger werdende „Gendering“ Laut Wikipedia „steht das Wort für einen geschlechterbewussten Sprachgebrauch, der im Interesse der Gleichstellung der Geschlechter mit Modifikationen der herkömmlichen Sprache einhergeht.“ Dem Gendering liegt der gutgemeinte Versuch zugrunde, einen ziemlich alten Irrtum zu beseitigen, der leider immer noch tief in der DNA unserer Gesellschaft steckt, nämlich, dass Männer und Frauen unterschiedlich viel wert seien. Meiner Meinung liegt jedoch auch hier wieder der Irrtum zugrunde, dass sich Einstellungen von Menschen durch zwangsweise verordnete Modifikationen der Sprache ändern lassen. Spätestens seit George Orwells Roman „1984“ haben wir ein plastisches Beispiel dafür, warum man das besser sein lassen sollte.
In Ländern des englischen Sprachraums kann man übrigens hervorragend beobachten, dass es offensichtlich nicht an der Sprache liegt, wenn Frauen gegenüber Männern in verschiedenen Bereichen immer noch benachteiligt sind, denn im Englischen gibt es keine so ausgeprägte „Geschlechtertrennung“ wie beispielsweise im Deutschen. Eine Lehrerin ist dort genauso „teacher“, wie ihr männlicher Kollege und meine beste Freundin ist genauso „friend“ wie mein bester Freund. Und dennoch gibt es dort keine vollständige Gleichberechtigung von Frauen. Nach dem, was man in den Medien mitbekommt, hat es sogar den Anschein, dass Frauen es in den USA sogar teilweise noch schwerer haben, als in Deutschland.
Die verordnete sprachliche politische Korrektheit ist daher meiner Meinung nach sinnlos und sorgt in erster Linie dafür, dass unsere Kommunikation immer verklemmter wird, weil jeder so bemüht ist, bloß nichts Falsches zu sagen und niemandem auf den Schlips zu treten. Dadurch geschieht es immer öfter, dass das, was man zu sagen hatte, nicht mehr wirklich ankommt.
Letztlich setzen die Versuche, Einstellungen über erzwungene Änderungen im Sprachgebrauch verändern zu wollen, an der falschen Stelle an. Sie verleugnen das eigentliche Problem, denn nur, weil man etwas nicht mehr sagen soll oder darf, heißt das nicht, dass man es nicht trotzdem denkt.
Damit eine Gesellschaft sich verändert, muss sich jedes einzelne ihrer Mitglieder bewegen. Und das kann keine „Revolution von oben“ sein – die Bewegung muss von unten kommen und das tut sie meiner Meinung nach bereits.
Sicher, die Veränderung ist noch ein sehr zartes Pflänzchen und an den Schaltzentralen der Macht ist sie noch lange nicht angekommen, jedoch macht mir die zunehmende Anzahl von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ihren Mitmenschen mit offenem Herzen und von Natur aus achtsamer und respektvoller Kommunikation begegnen, großen Mut. Je mehr von ihnen in Führungsetagen und politischen Ämtern ankommen, desto schneller wird die Veränderung vorangehen.
Als Eltern, Großeltern, Lehrer und Ratgeber haben wir dabei zwei wichtige Aufgaben. Die erste ist es, unseren eigenen Weg der Heilung und Entfaltung nach besten Kräften zu gehen, denn nur das, was wir für uns selbst geheilt haben, projizieren wir nicht mehr auf die Kinder und Jugendlichen. Und zweitens ist es unsere Aufgabe, ihnen zur Seite zu stehen, wenn sie durch Situationen konfrontiert sind, die dem alten Paradigma entspringen. Sie brauchen unsere Hilfe, um zu verstehen, was da wirkt und um zu lernen, damit umzugehen und es anders zu machen. Das ist eine große Aufgabe, aber seien Sie unbesorgt: Die Tatsache, dass Sie diesen Newsletter gelesen haben ist Zeugnis dafür, dass sie die Bereitschaft und die Fähigkeit dazu besitzen.
Liebe Grüße aus Aschaffenburg
Carsten Sann
Der Essenzenladen